DER CLUB

Rasen für die Wissenschaft:
Rennfahrer sehen richtig,
Manager noch nicht

Das Roland-Berger-Magazin würdigte schon vor längerem Dr. Nicolas Bissantz als den deutschen Big-Data-Pionier und begeisterte sich für seine Arbeit unter dem Titel „Wie Sie hochtourig denken und rasant entscheiden“. Tatsächlich erforschte Bissantz im Rennwagen, wie man Managementinformation so gestaltet, dass Führungskräfte schneller schalten. Auch uns vom WAC gefallen die Ergebnisse und demnächst können unsere Mitglieder die Zulassungszahlen des Kraftfahrt-Bundesamts mit den Methoden von Bissantz analysieren. Ein schöner Anlass, um mit dem rasenden Wissenschaftler über seinen ungewöhnlichen Ansatz und seine jüngsten Ergebnisse zu sprechen.

Jürgen Preuß Dass Innovationen unter Extrembedingungen leichter entstehen, kennt man seit der Erfindung von Klettverschluss, Rettungsdecken und kratzfesten Brillengläsern, die auf die Raumfahrt zurückgehen. Ein ähnlicher weiter Sprung scheint Ihnen gelungen zu sein. Wie kam das?

Dr. Nicolas Bissantz Wir loten seit beinahe 30 Jahren die Grenzen der Künstlichen Intelligenz in Datenanalyse und Berichtswesen von Unternehmen und Organisationen aus. Irgendwann merkten wir, dass es nicht reicht, nur die Möglichkeiten der Maschine zu kennen. Um Informationen wirksam werden zu lassen, müssen wir sehr genau und sehr grundsätzlich verstehen, wie Menschen Informationen unter Druck und in der Hektik des Managementalltags verarbeiten.

JP Der Managementalltag ähnelt einem Autorennen?

NB Top-Manager lassen sich nicht gern in die Karten schauen und Entscheidungsqualität ist nicht direkt messbar. In der Wissenschaft arbeitet man in solchen Fällen mit den Mitteln des Experiments. Man stellt so viele Einflussbedingungen wie möglich in einer Umgebung nach, in der man die Einflussvariablen kontrollieren und messen kann.

JP Bei Rennsport denkt man an Teamarbeit bei hektischen Reifenwechseln, Telemetrieauswertungen, die Strategie der Boxenstopps …

NB Das betrifft die Arbeitsorganisation, die ebenfalls faszinierend ist und von Erkenntnissen aus dem Rennsport profitiert, zum Beispiel bei Montageprozessen. Wir sind auf einer viel abstrakteren Ebene unterwegs, nämlich der Wahrnehmung visueller Signale. Im Kern gilt: Man lenkt ein Fahrzeug dorthin, wohin man sieht, Punkt für Punkt, Streckenabschnitt für Streckenabschnitt. Überraschenderweise beruht das Verstehen von Tabellen und Diagrammen ebenfalls auf einem sequenziellen Prozess, weil man dafür das Arbeitsgedächtnis braucht, das ausschließlich schrittweise arbeitet. Kurzum: Man denkt und versteht Tabellen und Diagramme in einem Blickverlauf, der vorgibt, wie die einzelnen Informationselemente aufgenommen und verarbeitet werden. Wir fanden heraus: Dafür gelten überindividuelle Gesetze, die wir im Rennsport besser
beobachten und messen können.

Eyetracking im Rennsport

JP Schlechter Blickverlauf, schlechte Rundenzeit – schlechter Blickverlauf, schlechtes Verstehen von Management-Information?

NB So ist es. Wir haben zuerst die Sehstrategien von Rennsport-Profis wie Hans-Joachim Stuck per mobilem Eyetracking aufgezeichnet und enträtselt. Dann haben wir mit mir als Amateur und Versuchskaninchen in vielen kleinen Einzelexperimenten Stück für Stück am eigenen Lernen buchstäblich „erfahren“, was Blickverläufe behindert und ablenkt. Und daraus haben wir eine Reihe neuer und allgemeiner Gestaltungsprinzipien für statisches und interaktives Informationsdesign abgeleitet.

JP Haben Sie ein konkretes Beispiel?

NB Viele. Ich konnte jeden Fehler, den ich gemacht habe, per Eyetracking, Rundenzeitenvergleich, Telemetrie und Coaching zuerst auf einen Sehfehler und dann auf ein visuelles Element der jeweiligen Fahrsituation zurückführen, das dann wiederum so auch in Tabellen, Diagrammen und Interaktionssequenzen existiert. In einer Kurve verfehlte ich mehrmals hintereinander den Einlenkpunkt, ohne zu verstehen, warum. Mein Blickverlauf wurde unwillkürlich von einer Reihe rot-weißer Pylonen angezogen, mit denen auf einer Geraden eine Schikane gebildet wurde.

Knappe Aufmerksamkeit

JP Ist es nicht normal, dass man jede Art von Information einigermaßen aufmerksam studieren muss, um sich nicht täuschen zu lassen?

NB Das Problem ist, dass wir unseren Blickverlauf nicht beliebig kontrollieren können. Das macht Ablenkungen so wirksam. Rennstrecken sind visuelle „Challenges by design“. Tabellen und Diagramme sollen es nicht sein. Die Pylonen schrien dem Auge zu: Fahre nicht hierhin und luden genau damit aber dazu ein. Genauso schreit gestalterischer Firlefanz den Leser an und verschlingt die knappe Aufmerksamkeit, die dem Verstehen gewidmet sein sollte.

JP Woher kommen die Einschränkungen der Kontrolle?

NB Wirklich scharf und bunt sehen wir nur mit dem kleinsten Teil des Auges, der Fovea. Strecken Sie Ihren Arm aus und schauen Sie auf Ihren Daumennagel. In dieser Größe bildet die Fovea die Welt vor uns ab. Den Rest sehen wir zunehmend unbunt und unscharf. Dass es uns anders vorkommt, ist eine Illusion des Gehirns: Es errechnet ein wahrscheinliches Gesamtbild und füllt die Lücken. Wie genau wir durch die Stichproben ein vollständiges Bild errechnen, können wir nicht sagen. Nur durch aufmerksames Beobachten, welche Details nach und nach in unser Bewusstsein treten, wenn wir vor uns hinsehen, erkennen wir die Unterschiede zwischen imaginiertem und echtem Bild.

Das Auffällige lenkt – oder es lenkt ab

JP Das ist ja faszinierend. Wir gehen also viel blinder durch die Welt, als es uns vorkommt?

NB Damit das funktioniert, wendet die Natur eine Reihe von Tricks an. Einer davon ist, dass wir Auffälliges zwanghaft und zunächst unbewusst inspizieren. Das schützt uns in natürlicher Umgebung erfolgreich vor Gefahren. Bei Tabellen und Diagrammen lenkt das Auffällige oder es lenkt ab, wenn Auffälligkeit und Relevanz nicht zusammenpassen.

JP Sie sprachen davon, dass Sie als Amateur auf Rennstrecken einen Lernprozess durchlebt haben. Wie profitiert Softwareentwicklung davon?

NB Auf mehreren Ebenen. Zunächst hat mich das eigene Erleben des Zusammenhangs von Aufmerksamkeit, Sehfehlern und Performance unter Druck sensibilisiert und motiviert. Aufmerksamkeit ist ein so kostbares, weil knappes Gut, dass ich im Design für Kompromisslosigkeit werbe: Mit Gestaltung ist man erst fertig, wenn die Blickverläufe, die sie Gestaltung provoziert, ausschließlich dem Verstehen dienen.

Diagramme sind nicht verlässlich

JP Viele meinen, dass man deswegen grundsätzlich Diagramme statt Tabellen verwenden sollte. Ich weiß, dass Sie das anders sehen.

NB Diagramme sollen Zahlen in visuelle Muster wandeln, die uns dann die Zahlen leichter verstehen und verarbeiten lassen, auch weil wir von der mächtigen Bildverarbeitung des Gehirns profitieren. Nach der Verlässlichkeit von visuellen Mustern zu fragen, ist übrigens ein Thema, das auch im Rallyesport von großer Bedeutung ist. Auf diese Parallele wies mich vor unseren Eyetracking-Fahrten mit Strietzel Stuck die Dakar-Siegerin Jutta Kleinschmidt hin. Mit ihr diskutierten wir Informationsstrategien, die im Management genauso wie beim härtesten Langstreckenrennen der Welt helfen. Leider sind die visuellen Muster, die Diagramme liefern, alles andere als verlässlich, und das systematisch und prinzipbedingt – und deshalb ungeeignet für so wichtige Management-Aufgaben wie die Beurteilung der Entwicklung von Umsatz und Gewinn oder von Marktsegmentveränderungen.

JP Zurück zu Ihren Erfahrungen im Rennauto. Sie sprachen von mehreren Ebenen.

NB Im Rennsport erlernt man Strategien, mit denen die eng gesteckten Grenzen der Wahrnehmung überwunden werden. Eine davon nenne ich die innere Landkarte. Für eine neue Strecke eignet man sie sich durch verschiedene Techniken an. Daraus lernt man sehr eindrücklich für Software, dass wir Informationssysteme „halbdynamisch“ organisieren müssen: Man muss sich darauf verlassen können, die gleiche Information am selben Platz vorzufinden, aber ihre Relevanz muss dynamisch gekennzeichnet sein.

Information braucht Interaktion

JP Ich finde auch, dass Information Interaktion braucht und bisherige Informationskonzepte zu statisch sind. Und den Stress, unter dem Entscheider stehen, dürfen wir ebenfalls nicht ausklammern.

NB Genau. Auf einer dritten Ebene haben wir mit eigenen Designs für Performanceanzeigen und ‑analysen experimentiert und dabei die unterschiedlichen Situationen genutzt – Simulation, Training, Telemetrieauswertungen, Qualifying, Sprint- und Langstreckenrennen mit ihren unterschiedlichen psychologischen und faktischen Gegebenheiten. Daraus wiederum ist ein Set aus Darstellungen entstanden, mit denen wir je nach Zielgröße und Situation im Management passende und neuartige Visualisierungen abgeleitet haben. So zeigen wir Abweichungen von Sollgrößen in unserer Software heute nach Kriterien an, die wir im Rennsport entdeckt haben. In der Managementinformation haben sie sich ebenfalls bewährt, sodass sie inzwischen in unsere Software integriert sind. Beispielsweise unterscheiden wir etwa im Realtime-Monitoring von Produktionsabläufen, dass Manager und Montagearbeiter den Arbeitsfortschritt jeweils anders in Platzierung und Detaillierung angezeigt bekommen.

JP Sie haben an einer anderen Stelle darauf hingewiesen, dass man im Spitzensport generell das Sehen speziell trainiert und das auch ein Vorbild für Geistesarbeiter sein sollte.

NB Wir haben uns unter anderem intensiv mit den Arbeiten der Sportuni Köln auseinandergesetzt und damit, wie zum Beispiel Eishockeyspieler ihr Sehvermögen trainieren, und gemeinsam mit dem Fifa-Schiedsrichter Deniz Aytekin viel über Sehstrategien im Fußball gesprochen. Generell gilt, dass wir mit Softwaregestaltung die Performance des Sehens und Verstehens komplexer tabellarischer und grafischer Information deutlich verbessern können. Genauso wünscht man sich aber auch, dass an Universitäten für Geistesarbeiter Sehtrainings entwickelt werden. Studien zeigen, dass viele Menschen in Großunternehmen sich schon mit der Lektüre von Tabellen schwertun und dazu ein Lineal benutzen.

Eyetracking im Management

JP Ihre ersten Forschungen begannen mit umfänglichem Eyetracking, erst im Labor, dann unter anderem mit der Rennfahrerlegende Hans-Joachim Stuck und dann an sich selbst und an Renncoaches. Haben Sie auch Manager per Eyetracking beobachtet?

NB Ja, und dabei festgestellt, dass wir das Labor verlassen müssen. Hinsehen ist nicht Hindenken und wir kommen der Wahrnehmung nur auf die Schliche, wenn wir Sehperformance an objektiven Kriterien messen können. Das wiederum geht nur in einer Umgebung, in der wir mobiles Eyetracking einsetzen können, bei dem man eine spezielle Brille trägt.

JP Wir werden auf der WAC-Website demnächst Zulassungszahlen vom Kraftfahrt-Bundesamt mit Ihren Methoden visualisieren. Könnte man sagen, dass man sie sich dann mit den Augen eines Rennfahrers ansieht?

NB Das ist nicht mehr nötig Spitzensport ist auch ein Wettbewerb des besseren Sehens. Wir haben gelernt, welche Herausforderungen durch die Grenzen des Sehens und die Bedingungen des Wettbewerbs Rennfahrer und andere Spitzensportler meistern müssen und wie sie ihnen durch Training und Sehstrategien begegnen. Durch Gestaltung lassen sich diese Herausforderungen und Bedingungen größtenteils eliminieren und damit bei gegebener Aufmerksamkeit ein Maximum an Information transportieren. Oder kurz: Spitzensportler lassen sich nicht ablenken. Software kann die Aufmerksamkeit eines Managers lenken – datengetrieben.

Wir danken unserem WAC-Firmenmitglied Bissantz für den bereitgestellten Content.

Mehr Informationen unter: www.bissantz.de