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Bonjour, Michel Vaillant!
Zeichnungen: Jean Graton
Das Comic-Idol fährt seit über 60 Jahren erfolgreich Rennen. Vrrrrroooooom! Sein Schöpfer, Jean Graton, hat rund um die Hauptfigur einen ganzen Familienkosmos erfunden und die Welt der Automarke Vaillante gleich mitgeliefert. Eine Story, die sich im echten Leben fortschreibt: Die Geschichte von Michel Vaillant ist eng verknüpft mit der Vita von Philippe Graton, dem Sohn des berühmten Comic-Zeichners.
Die Wurzeln des Heldenepos Michel Vaillant reichen zurück bis in die 1950er-Jahre. Jean Graton ist damals ein junger Kerl und verrückt nach Motorsport. Selbst Rennen zu fahren, ist für ihn unmöglich. Ihm fehlt das Geld und möglicherweise auch etwas Talent. Aber er zeichnet weltmeisterlich und kann durch den Job in einer Werbeagentur in die Comic-Welt hineinschnuppern – in ein Universum, in dem alles möglich ist. 1957 erfindet Graton Michel Vaillant, und einen Moment später öffnet sich für ihn auch die reale Welt des Motorsports.
Porsche 917: In der Welt von „Vaillant“ verschwimmen reale Fahrzeuge in fantastischen Szenerien. Als sogenannte Michel Vaillant Art Strips sind die limitierten Werke begehrt.
Jedes Abenteuer von Michel Vaillant wird zum eigenen kleinen Epos. Jede Zeichnung so kunstvoll wie ein Stück Pop-Art – nur spannender. Vrooaarppp. Vroaaammm, Iiiiiii. Shhaa, Bang, Tchak. Die schreienden Buchstaben – auf Französisch les bruitages – bringen Tempo in die Bilder und übertragen die trommelfellzerreißende Akustik der Rennstrecke auf sonst stilles Papier. Graton erschafft eine mitreißende und dabei zugleich saubere Welt attraktiver Menschen und noch viel attraktiverer Autos. Obwohl jeder einzelne Bolide von Michel Vaillant ein ästhetisches Objekt ist, träumt Jean Graton nie von einer Karriere als Autodesigner. Als Comic-Zeichner ist er glücklich wie ein Kind.
Gratons Sohn Philippe hat das scharfe Auge für Schönheit und das Gespür für starke Geschichten geerbt, nicht aber das zeichnerische Talent – und er hat sowieso eigene Lebenspläne. Er wird Fotograf und Journalist, geht seinen eigenen Weg, bis „mein Vater plötzlich ohne Verleger dastand. Eine Katastrophe. Das war 1981. Er hatte gut verdient, aber auch gut gelebt“, sagt Philippe mit einem Augenzwinkern in Richtung erlesener Restaurants und Hotels, die in jedem Vaillant-Comic als Kulisse dienen. Fans schmunzeln sogar über den Guide Graton, der nicht zufällig dem kulinarischen Guide Michelin sehr ähnelt.
Vaillant fordert Philippes gesamte Aufmerksamkeit. Der Sohn übernimmt das Geschäftliche, jene Dinge, die Jean nicht sonderlich liegen. „Damit war ich nun täglich zwölf Stunden beschäftigt“, erzählt Philippe über die Verlagsgründung, die am heimischen Küchentisch stattfand.
Später wendet er sich zusätzlich auch den Handlungen der Comics zu: „Ich recherchierte bei Autokonstrukteuren, Teams und Fahrern und schrieb die Szenarien. Mein Vater zeichnete weiter.“ Als sich bei Jean das Alter meldet, übernimmt Philippe sogar das gesamte Geschäft. Mit Ausnahme des Zeichnens, das bleibt die Domäne der nun angestellten Illustratoren und Zeichner. Doch die familiäre Struktur erweist sich als Handicap. Philippe: „Wir waren Autoren, die nur zufällig zu Verlegern wurden. Mit 70 Titeln verdiente es Michel Vaillant, professionell vermarktet zu werden.“
Brüder im Geiste: Philippe Graton wuchs mit Michel Vaillant als ständigem Begleiter auf.
Philippe Graton wuchs mit Michel Vaillant auf wie mit einem zweidimensionalen Bruder: „Mein Vater erschuf Michel 1957, ich bin 1961 geboren – wir waren die Kinder eines ausgeprägten Familienmenschen.“ Vielleicht auch deshalb ist Michel Vaillant ein Comic über eine ganze Familie, mit zunächst sehr konservativem Weltbild. „Die Chronik begann mit einem Vater, der eine kleine Automarke besaß und in Michel einen Sohn, der in Amerika Rennen fuhr – damals bedeutete das noch das andere Ende der Welt. David gegen Goliath. Es ging um etwas. Es war gefährlich, spannend. Vaillant gewann Le Mans, später einen Grand Prix und er wurde sogar Weltmeister, während die Vaillante-Fabriken immer gigantischer wurden. Die Geschichte ist durchaus ein wenig mit Porsche vergleichbar“, sagt Philippe Graton. Im Comic ist den Wünschen von Vater Henri Folge zu leisten. Der älteste Sohn, Jean-Pierre, wird Ingenieur in den Vaillante-Automobilwerken. Michel ist Rennfahrer und Markenbotschafter, Françoise opfert ihre Journalistenkarriere, um Michels Vollzeitehefrau sein zu können.
Porsche 907: Pop-Art mit einer lautmalerischen Schleppe brüllender Rennleidenschaft.
„Vaillant ist Comic und Dokumentation zugleich“, darin sieht Philippe Graton einen Erfolgsfaktor. „In Bezug auf die Szenarien geht die Fantasie schon einmal mit uns durch, aber die Autos, die Fahrer, die Rennstrecken und sogar die Werbebanner stimmen immer ganz genau. Fiktion und Fakten derartig zu verweben ist einzigartig.“ Es gibt nur eine Ausnahme: Obwohl der Motorsport damals wahnsinnig gefährlich war, kommt bei Vaillant nie jemand ums Leben. Und selbst die Bösen sind nie vollkommen bösartig – sie gewinnen eben nur nie. Michel im Übrigen auch nicht immer. „Glaubwürdigkeit ist entscheidend.“
Das Jahr 2012 bringt charakterlich prägende Veränderungen für die zweite Staffel von Michel Vaillant. Philippe Graton gehen die sauberen Ideen für seine Gallionsfigur aus: „Michel war gescheit und makellos, aber gleichzeitig auch päpstlicher als der Papst. Eigentlich viel zu brav. Ich sagte mir, wenn ich nicht mehr von ihm begeistert bin, sind es die Leser auch nicht mehr.“
„Vaillant ist Comic und Dokumentation zugleich.“ Philippe Graton
Zudem verkörpern Autos zunehmend weniger Attribute wie Freiheit, Mut und rauschhafte Geschwindigkeit wie zu Beginn der Vaillant-Saga. Michel wird deshalb in den 2010er-Jahren zu einem Helden, „der moderner denkt, der auch mal zweifelt und zuweilen sogar mal den falschen Weg einschlägt.“ Auch neue Antriebstechnologien wie Strom und Wasserstoff halten Einzug in der Comic-Welt.
Unverwechselbar: Die Typographie ist eindeutig „Vaillant“.
Passend dazu entsteht mit dem neuen Illustrator Benjamin Benéteau ein viel dynamischerer Zeichenstil. Jean Gratons Bildsprache ist ohnehin nicht zu kopieren. „Zum Glück gefiel meinem Vater diese Entwicklung. Der Zeichner Hergé wünschte sich damals, dass sein Tintin (deutsch: Tim aus der Reihe Tim und Struppi) zusammen mit ihm sterben sollte. Aber Papa gönnte Michel das ewige Leben. Und wie Henri Vaillant im Comic seinen Sohn immer wieder fordert, stellte auch er Ansprüche an mich.“
Ende 2019 schließt sich ein Kreis. Das am Küchentisch initiierte Kleinunternehmen Vaillant kommt unter das Dach des Pariser Verlags Dupuis und Manager Jean-Louis Dauger ist der ideale Mann, um Vaillant fit für die Zukunft zu machen. Daugers Vorteil: Er kennt sich im Rennsport aus. Und er hat, genau wie Benéteau, einen Sportwagen aus Zuffenhausen in der Garage stehen – der Zeichner fährt einen Porsche 718 Cayman, Dauger einen Porsche 911 Carrera 2 der Generation 993 von 1994.
Ein perfektes Paar wie Tag und Nacht: „Vaillant“-Vermarkter Jean-Louis Dauger vor dem Art Strip „Le Fantôme des 24 Heures“. Das Werk zeigt Michel in der Nacht vor einem Le-Mans-Start.
„Es geht um Menschen, Familie und Business.“ Jean-Louis Dauger
Geschickt schafft Dauger eine Verknüpfung in die Wirklichkeit. Er lässt den Schweizer Rennfahrer Alain Menu in die Rolle des Michel Vaillant schlüpfen. Und Menu, alias Vaillant, macht dem Comic-Helden beim portugiesischen Lauf zur Tourenwagen-Weltmeisterschaft 2012 mit einem überlegenen Sieg alle Ehre. 2017 starten sogar zwei echte Vaillante zum 24-Stunden-Rennen von Le Mans. Und Dauger überträgt den Sexappeal der Vaillant-Welt auf Uhren, Helme, Kleidung und andere Artikel. „Es gibt unendlich viele Möglichkeiten“, weiß er, „denn Vaillant ist mehr als nur Motorsport. Es geht um Menschen, Familie, und es geht um Business in einer sich wandelnden Welt.“ Am begehrtesten bleiben jedoch die kunstvollen Comic-Zeichnungen aus den Anfangszeiten von Michel Vaillant – am liebsten als limitierte Auflagen in Wandgröße. Auf so viel Raum entfaltet sich die Größe Jean Gratons noch einmal optisch: als Mensch, romantischer Rennsportfan und vor allem als ein Mann der Kunst.
Diese Story finden Sie in der Ausgabe 395