MOBILITÄT
Technologieoffenheit
als Schlüssel zum Erfolg
ZF-Maßnahmen zur passiven Sicherheit: Torsten Gollewski berichtet darüber, das Chassis so auszulegen, dass Insassen Sicherheit, Komfort und Effizienz von Fahrzeugen genießen können
Agilität und leuchtende Augen sind bei ZF gelebte Realität: In wirtschaftlich
unbequemen Zeiten mit drohender Rezession und mittendrin im (auto)mobilen Umbruch überzeugt ZF mit vielen ausgeklügelten Produkten
Motion Sickness, externer Seitenairbag, Integrierte Sicherheit, Elektroantrieb mit Zweigang-Automatik, neue Generation Achtgang-Automatgetriebe als Baukasten für Mild-, Voll und Plug-in-Hybrid, Vehicle Motion Control, Flying Carpet 2.0, Car eWallet, Automatisiertes Fahren – ein wahrhaftiges Feuerwerk innovativer Entwicklungen feuert ZF in Richtung Automobilhersteller. Und doch ist der Technologiekonzern natürlich abhängig von BMW, Daimler, VW und Co., bevor solche marktreifen Entwicklungen in Serie gehen können und mit ihnen letztlich Geld zu verdienen ist.
ZF Friedrichshafen ist vom Start-up- Geist durchdrungen, hat die unterschiedlichsten Wege gefunden, um von Start-up- Ideen und Technologiekooperationen zu profitieren. Motor und Motivator für ein agiles Großunternehmen mit passionierten Mitarbeitern ist CEO Wolf-Henning Scheider höchstpersönlich. Sei es die Kooperation mit dem Aachener Start-up e.Go am vollelektrischen, automatisierten People Mover, der schon bald in Friedrichshafen im Testbetrieb rollt, seien es andere zukunftsorientierte Vorhaben, die der Unternehmenslenker entscheidungsfreudig anstößt, der Global Tech Day des Konzerns bewies, wie flott die Friedrichshafener am Werk sind.
Herausfordernde Zeiten
Leuchtende Augen seiner Kollegen und Mitarbeiter, das ist es auch, was Torsten Gollewski als Leiter des Systemhauses für autonomes Fahren immer wieder aufs Neue für seine Arbeit begeistert und die im Unternehmen nicht-mehr-so-goldenen Zeiten leichter macht. Dass die Automobilindustrie wegen Digitalisierung auf breiter Front und der Suche nach alternativen Antriebsformen neben dem Verbrennungsmotor sich dem größten Umbruch ihrer mehr als 130 Jahre alten Historie gegenübersieht, hat unmittelbare Auswirkungen auf die gesamte „Nahrungskette“ dieser weltumspannenden Industrie.
Am unmittelbarsten zu spüren bekommen die Zulieferer den Kurswechsel, den die Automobilhersteller in die Wege leiten. ZF Friedrichshafen, mittlerweile der weltweit viertgrößte Zulieferer der Automobilindustrie, will sich dafür strategisch rüsten. Die Finanzkrise vor zehn Jahren hat der Zulieferer, der mit seiner Zeppelinstiftung einen soliden Geldgeber im Rücken weiß, ohne Personalabbau überstanden.
Und diesmal? Bosch veräußert Geschäftsbereiche, ZF kauft zu. Viele Zulieferer bauen zudem massiv Stellen ab, auch bei Mahle und Bosch wird dies nicht mehr ausgeschlossen. Bei ZF sind die Bedingungen insgesamt besser. Zaubern kann der Zulieferer trotzdem nicht. „Wir merken den Abschwung, liegen wegen der schrumpfenden Automobilmärkte deutlich unter unseren Planungen“, kommentierte ZF-Chef Wolf- Henning Scheider kürzlich die negativen Signale. Als Reaktion auf das global schwierige Marktumfeld hat ZF seine Umsatz- und Ergebniserwartungen für 2019 heruntergeschraubt. Scheider zur Lage: „Von der derzeit schwierigen weltwirtschaftlichen Situation können aber auch wir uns nicht entkoppeln und liegen wegen der schrumpfenden Automobilmärkte deutlich unter unseren Planungen.“
Trotzdem geht es ZF vergleichsweise gut – dank überzeugter Abnehmer, insbesondere des konsequent weiterentwickelten Achtgang-Automatikantriebs, bei dem die Leistungselektronik in der vierten Generation seitlich am Getriebe angeflanscht werden kann. „Die jüngst erhaltenen Großaufträge für unser hybridfähiges Pkw-Automatgetriebe und die nun beginnende Lieferung unseres Elektroantriebs für ein in Großserie gefertigtes Fahrzeug der Oberklasse zeigen, dass unsere Strategie und unser technologieoffener Ansatz richtig sind. Die Kunden vertrauen langfristig auf unsere Produkte
und Technologien“, sagt der Vorsitzende des Vorstands der ZF Friedrichshafen AG.
2getther Shuttle: ZF hat eine Mehrheitsbeteiligung von 60 Prozent am Unternehmen, das automatisierte Personen- und Lastentransporter realisiert. Weltweit wurden in Großstädten, Häfen und Flughäfen bisher mehr als 14 Millionen Personen rein elektrisch und zuverlässig befördert
Entwicklung mit Cashcow-Potential
Das Potential zur Cashcow hat auch die neu entwickelte Zweigang-Automatik für Elektrofahrzeuge. Künftigen Nutzern bringt der Elektroantrieb, der mit einer Zweigang-Automatik verknüpft ist, eine um gut zehn Prozent verbesserte Beschleunigung und eine um mindestens fünf Prozent verlängerte Reichweite. „Jedes Prozent Effizienz im Wirkungsgrad mündet in zwei Prozent mehr Reichweite“, betont Bert Hellwig, Leiter des Systemhauses E-Mobility bei ZF. Dazu kombinierten die Ingenieure ein 140 kW/190 PS starkes Triebwerk mit einem automatischen Zweigang-Getriebe, das bei etwa 70 km/ h den zweiten Gang aktiviert. Das bedeutet einen besseren Wirkungsgrad des Motors.
Die Kunden von ZF haben beim Zweigang- Antrieb die Wahl: Bei gleichbleibender Batteriegröße kann die Entwicklung einen besseren Wirkungsgrad anbieten. Oder aber der OEM entscheidet sich für einen kleineren Akku, hat aber den gleichen Wirkungsgrad. Gerade bei Kleinwagen kann der kleinere Akku sehr interessant sein, um das Ladevolumen erhöhen oder Platz für die Passagiere gewinnen zu können.
Das Entweder-oder zwischen hohem Anfahrdrehmoment zulasten einer höhere Endgeschwindigkeit wird beim elektrischen Zweigang-Getriebe zu einem Sowohl- als-auch. Und Hellwig ergänzt: „Der neue Antrieb wird für leistungsfähige und schwerere Fahrzeuge kompatibel sein – zum Beispiel für Pkw, die einen Anhänger ziehen.“ Aufgrund des modularen Ansatzes werde sich das Zweigang-Getriebe auch mit leistungsstärkeren E-Maschinen bis 250 kW/340 PS kombinieren lassen. Somit können unterschiedliche Anforderungen auf Basis des modularen Konzepts befriedigt werden. Das Zusammenspiel von Motor, Elektronik und Getriebe erlaubt also sowohl bessere Beschleunigungswerte als auch eine höhere Endgeschwindigkeit, da die Elektronik stets berechnet, welcher der beiden Gänge gerade am Wirkungsvollsten die momentane Fahrsituation meistert und dabei am wenigsten Energie verbraucht. Dazu kann diese Technik auch mit den Daten des Navigationssystems gefüttert werden, die vorausschauend den passenden Gang für kommende Kurven oder für Bergauf- oder Abfahrten auswählt.
Agilität bei ZF bedeutet Corporate Ventures
Systematisch geht ZF neue Marktchancen an. Das Unternehmen setzt auf sogenannte Corporate Ventures, die viel von der Wirkungsweise eines Start-ups haben. Die Ventures agieren in Einklang mit der übergeordneten ZF-Firmenphilosophie – daher die Bezeichnung „Corporate“ – gezielt, flexibel und schnell. Torsten Gollewski dirigiert als Leiter des Systemhauses für Autonomes Fahren im Unternehmen genau diese potenziellen Zukunftsunternehmen. Das Prinzip: Die Beteiligungen und Partnerschaften sind angedockt an das restliche Unternehmen.
„Um auf die Trends der Automobilindustrie zu reagieren, also Elektrifizierung, Automatisierung, Digitalisierung, muss sich unsere Arbeitsweise grundlegend verändern“, so Gollewski, der früher bei Audi unter anderem die Automotive Safety Technologies GmbH leitete. Dieses andere Arbeiten fange mit dem Design von Produkten an, bei mechanischen wie digitalen. Mitgestalten, Mitentwickeln und Erfahrungen von außen, von der sogenannten Crowd miteinbeziehen – das sind die Leitlinien. „Wenn man sich die Produktion und die Lieferkette ansieht, dann verschiebt sich das von ,Ich mache und verkaufe ein Produkt‘ zu einem kontinuierlichen Update des Produkts“, sagt Gollewski. In diesem Prozess seien Start-ups mit ihrer frischen Perspektive und ihrem oft komplett anderen Blickwinkel auf die Automobilindustrie hilfreich. Ein solches Denken sei in einem traditionellen Rahmen oft nicht möglich. „Wir fordern zwar auch unsere Mitarbeiter auf, anders zu denken. Aber wir sind uns bewusst, dass wir zusätzlich eine konsequente Infusion externen Denkens brauchen.“
Mobility Life Balance: ZF stellt höchstmöglich flexible, ausgeklügelte weiterentwickelte und neue Technologien für die mobile Zukunft vor
Investitionen und Beteiligungen
Von den Corporate Ventures führen zwei typische Wege in den Konzern – einer über Investitionen aus einem dafür gut gefüllten Finanztopf, der andere über die Suche nach Beteiligungen mit der letztlichen Eingliederung der entsprechenden Firmen ins Unternehmen. Bei ZF beschreitet man ganz bewusst auch einen dritten Weg. Den beschreibt Gollewski so: „Wir suchen nach Ideen und nach solchen Unternehmen, die zu unserer ZF-Strategie passen und an denen wir uns signifikant beteiligen können. Wir belassen diese Unternehmen aber am Markt. Denn nur wenn sich das Start-up oder die gestandene Firma weiter am Markt bewegt, profitieren auch wir vom fortlaufenden Reifeprozess der Produkte und Dienstleistungen.“
Die ZF Car eWallet GmbH ist ein ausgegründetes Start-up, das vom direkten Umfeld der ZF nach Berlin weggezogen ist und dort selbstständig agiert. Strategiechefin Anam Zehra und Frau der ersten Stunde beim Start-up, das sich der IBM-Blockchain- Technologie bedient, freut sich über die enge Kooperation mit ZF. „Wir haben einen innovativen, digitalen Assistenten entwickelt, der den Fahrer sicher und bequem unterwegs bezahlen und Zahlungen entgegennehmen lässt.“ Bei ZF glaubt man fest daran, dass ein Start-up auch nach dem eigenen Investment so beweglich wie möglich bleiben muss. Erst dann sei der Vorteil auch für das eigene Unternehmen der größte.
Kein Alleinanspruch auf erfolgreiche Start-ups Im Gegensatz zu manch anderem Investor erhebt ZF keinen Alleinanspruch auf ein erfolgreiches Start-up. Die Strategie ist differenziert. „Es geht uns mehr um die Erweiterung von eigenem Produktportfolio und Expertise. Wir lassen also zu, dass sich auch andere Investoren an den Firmen beteiligen können. Das geschieht in der Absicht, die Unternehmen an den Märkten zu entwickeln, um die besten Produkte zu kreieren.“ Gollewski sieht das Vorgehen nüchtern. „Alle Technologiefelder aus eigener Kraft heraus zu entwickeln, funktioniert nicht. ZF hat hier mit der ZF Zukunft Ventures ein wirksames Instrument an der Hand, in dem sie ihr Ökosystem an Partnerschaften vereinen.“ Auch Kooperationen wie die zwischen ZF und Nvidia, einem der größten Entwickler von Grafikprozessoren, werden dort koordiniert.
Der Entwickler wirbt dafür, sich erfolgreiche große Konzerne wie einen vielfältigen Fischschwarm vorzustellen und die darin enthaltene Schwarmintelligenz zu heben. „Unsere rund 150.000 Mitarbeiter haben ein enormes Innovationspotenzial. Das versuchen wir, über vielfältige Maßnahmen zu aktivieren und zu nutzen.“ Ein Beispiel sind interne Präsentations-Events oder auch Formate, in denen unser Management in Mitarbeiterideen mit Innovationspotenzial investieren kann.“
Akustiksensoren statt Radar
Ein Beispiel: Zwei Mitarbeiter fragten sich, warum man in automatisierten Fahrzeugen nicht Akustiksensoren nutzt, sondern nur optische wie Radar und Lidar. Wenn sich ein Krankenwagen nähert, weiß man meist nicht, aus welcher Richtung er kommt. Sie bauten deshalb Mikrofone in Autos ein. Sound.AI warnt den Fahrer und informiert ihn, wohin er ausweichen kann. Von der Idee im März 2017 zur Umsetzung vergingen nur wenige Monate. Im Juli gewannen sie einen internen Präsentationswettbewerb, und ZF investierte in sie. „Mit den Ressourcen und dem Budget bauten sie ein minimal funktionsfähiges Produkt, das mittlerweile in Richtung Serie weiterentwickelt wird“, berichtet Gollewski.
Agilität bei ZF mit unterschiedlichem Tempo
Das Innovationspotenzial innerhalb der ZF steigt weiter durch interne Prozesse, die unterschiedliche Geschwindigkeiten und Organisationsmodelle erlauben. Hinzu kommen die System- und Projekthäuser, die abteilungsübergreifend Themen wie automatisiertes Fahren oder Elektromobilität vorantreiben. „Mit neuen Strukturen und Prozessen haben wir Hierarchien und Komplexität vereinfacht“, so der Leiter Vorentwicklung. Er wünscht sich beim Thema Agilität bei ZF eben diese „Leute mit leuchtenden Augen“.
Text und Fotos:
Susanne Roeder