CLASSICS

Großer Meister: Paul Bracq

Paul Bracq ist einer der wichtigsten Karosseriedesigner der Automobilgeschichte. Sein Name ist mit der Mercedes-Benz „Pagode“, dem „Strich-Acht“ und dem 600er eng verbunden.

Die glücklichste Zeit.

„Bei Daimler-Benz hatte ich meine schönste, meine glücklichste Zeit. Rund zehn Jahre waren es, von 1957 bis Ende der 1960er-Jahre. Es war damals ja sowieso die große Zeit des Automobilbaus.“ Das sagte der legendäre ­Karosseriedesigner Paul Bracq bereits am Telefon. Die Pagode, der Strich-Acht, der Große Mercedes, der französische Maître Carrossier hat mit Lust und Leidenschaft einige auto­mobile Ikonen erschaffen und gehört in die erste Liga der großen alten Meister. 

Ein persönliches Treffen mit ihm in Bordeaux, der weltberühmten Weinstadt – und seiner Heimatstadt – im Südwesten Frankreichs? Der mittlerweile 85-Jährige hadert gerade etwas mit seiner Gesundheit. Eigentlich, so Ehefrau Sigrun Alice, 78, diplomierte Textildesignerin und Malerin, seit 58 Jahren mit dem Meister verheiratet, treffe ihr Mann keine Journalisten mehr. Doch nach einigen Wochen Bedenk- und Genesungszeit nach einer Operation – und für das Classic Magazin von Mercedes-Benz: „Na klar, kommen Sie nach Bordeaux.“ 

Eleganz ist Einfachheit.

Die Bracqs wohnen inmitten einer ruhigen, grünen Gegend in einem von großen Bäumen und gepflegtem Garten gerahmten Mehrfamilienhaus. Sigrun Alice Bracq winkt schon zur Begrüßung vom fast die gesamte Wohnung umspannenden Balkon. Paul Bracq trägt ein weißes Hemd unter der dunkelblauen Weste und dem gleichfarbigen Jackett, dazu ein seidenes Halstuch. Das Tuch – er besitzt ein paar Dutzend – ist sein Markenzeichen. „Ich kleide mich gerne klassisch-elegant“, sagt er bestens gelaunt. Sein Blick ist freundlich, offen, aufmerksam. Und Ehefrau Sigrun Alice fragt: „Tee oder Kaffee, Gebäck oder Obst?“

Auf dem Schreibtisch hat Paul Bracq bereits Unter­lagen seines langen Arbeitslebens ausgebreitet. Skizzen, Zeichnungen, Entwürfe, Modelle, Plastiken. Was sofort auffällt: Es sind immer fließende, dynamische Formen, mit denen sich der Karosseriedesigner beschäftigte und beschäftigt. An der Wand über dem Schreibtisch hängt ein Ölbild, das er im Jahr 2005 gemalt hat. 

„Schön müssen die Dinge sein – und praktisch.“

„Sie sehen darauf einen SL, wie ich ihn mir damals vorstellte“, erklärt der gebürtige Franzose, der schon als Zwei­jähriger immer mit einem aus Holz oder Knetmasse selbst gebastelten Auto in der Hand herumlief. Mit 14 baute er Holzmodelle im Maßstab 1:12 und entwickelte so ­spielerisch seine ersten Ideen für Form und Design.

Als er nach Armeezeit und Ausbildung im Jahr 1957 zu Daimler-Benz kam, hat er erst mal Autos für die Werbe­kataloge gemalt. Dann hat er, bevor er haupt­verantwortlich in die Karosseriegestaltung einstieg, einige Rückleuchten der „Heckflossen“-Modelle und die Heckscheibe des 190 SL neu gestaltet.

„Ich habe sie benutzerfreundlicher, größer gestaltet“, sagt er. „Das ist mir immer wichtig gewesen. Schön müssen die Dinge sein – und praktisch.“ Er leitete die Design-Vorentwicklung. Sein Job war es, „die Zukunft“ aufs Papier zu bringen, erklärt er und leert den Espresso mit einem Schluck. Gearbeitet hat er stets von 6:55 Uhr bis um 17:30 Uhr. Die Morgenstunden seien für ihn „ein Gottesgeschenk“. Ebenso die Musik. Klassische Sinfonien, Blues, Jazz, fast alles hörte und hört er bei der kreativen Arbeit. Die Musikalität hat er von seiner Mutter geerbt, die Klavier spielte. „Musik“, sagt Paul Bracq, „ist mein Benzin.“

„Autos ­müssen ein markantes Gesicht haben.“

Und sein Motor, also sein Antrieb damals? „Schöne Autos bauen, die sich die Leute gerne angucken, die sie mit ihren Augen streicheln. Sie sollten auch als Gebrauchte ihren Wert erhalten – und 40 Jahre später beim Concours d’Elegance Siege erringen. So ging ich stets ans Werk.“

Paul Bracqs designerischer Anspruch? „Ich mag ­fließende Formen. Eleganz, Leichtigkeit und Komfort, darauf kommt es an. Einfachheit ist für mich Eleganz. Also suchte ich immer nach Einfachheit. Und: Autos ­müssen ein markantes Gesicht haben.“

Als es bei der Entwicklung eines neuen Sportwagens nach der Ära des 300 SL und 190 SL Anfang der 1960er-Jahre allmählich auf die Zielgerade ging, erinnerte der erste Entwurf von Paul Bracq noch stark an den direkten Vorgänger. Vorgabe der Ingenieure für den neuen Zweisitzer war: Man musste vor allem bequemer aus- und einsteigen können, die Rundumsicht sollte besser werden. Nach fünf weiteren Entwürfen war die finale Karosserie der Pagode (unten rechts) geboren.

„Ja, wir haben gewonnen.“

Die Pagode, erklärt er in seinem Atelier, dem hellsten Zimmer seiner Wohnung, in dem er gerade an ein paar Ölbildern arbeitet, habe keine gequälte Form, keinen pseudomodernen Barockstil. „Und, ganz wichtig, der Fahrer hat eine gute Rundumsicht. Das war auch die Ansage von den Ingenieuren um den großen Béla Barényi damals. Und man muss bequem ein- und aussteigen können. Ich möchte behaupten, das ist uns gelungen. Es ist doch eine Freude, mit der Pagode rückwärts einzuparken. Dass der Wagen die Zeit überlebt, ist für mich persönlich natürlich eine große Genugtuung. Ja, wir haben gewonnen.“

Sohn Boris, 48, der wie sein Vater Design gelernt hat und 15 Jahre lang seine eigene Industriedesign-Agentur ­leitete, suchte für ihn zum 80. Geburtstag eine Pagode, erzählt er beim gemeinsamen Essen im nahen Restaurant. Boris machte einen Scheunenfund, den er für den Vater, der weder eine Klassikersammlung noch jemals selbst eine Pagode besessen hat, restaurieren konnte. Der Vater wollte dieses Geschenk dann jedoch nicht annehmen. 

Aber Boris infizierte sich bei der Suche nach Scheunenfunden – und bei deren Restaurierung – mit dem Pagoden-Virus. „Was soll ich sagen“, fragt er in ­Richtung der Eltern lächelnd. „Ist eben Vererbung.“ Seit einigen Jahren betreibt er deshalb in Bordeaux die Werkstatt-Manufaktur „Les Ateliers Paul Bracq“ – haupt­sächlich für Pagoden. Mit vier Mitarbeitern erweckt er hier nicht nur Scheunenfunde zu neuem Leben, er repariert auch 230 SL, 250 SL und 280 SL. Gerade bearbeitet das Team zwölf Pagoden. „Unsere Kunden kommen aus ­vielen Ländern Europas“, sagt Boris Bracq – und sein berühmter Vater klopft ihm stolz auf die Schulter. Momentan tüfteln beide an einem „Geheimprojekt“: einer limitierten Sonderedition. Mehr verraten sie nicht. Eine letzte Frage noch. „Haben Sie Lust, für die Leser des Classic Magazins ein Bild zu malen. Das Titelbild?“ 

Paul Bracq zieht sich in sein Atelier zurück und beginnt erst mal mit Skizzen. Dann beginnt er zu malen. Nach acht Tagen ist das Ölbild des Meisters fertig. Darauf die Pagode, was sonst. 

Jörg Heuer
Text, Fotos

Paul Bracq
Zeichnungen

Quentin Salinier 
Fotos

Wir danken unserem Kompetenzpartner Mercedes-Benz für den bereitgestellten Content.

Mehr Informationen unter: www.mercedes-benz.com