CLASSICS
Mercedes-Benz:
Mit moderner „Ponton“-Karosserie:
Der Urvater aller „Erlkönige“ wird
70 Jahre alt
- Prototypen in der Automobilindustrie tragen im deutschen Sprachgebrauch diesen Namen
- Mercedes-Benz 180: Abschied von traditioneller Bauweise und viele weitere Innovationen
- Die geräumige, übersichtliche, komfortable und wirtschaftliche Limousine debütiert 1953
- Fast 450.000 Fahrzeuge der Baureihen W 120/121 werden gebaut
„Close-up“ – der Name der Serie des Mercedes-Benz Museums ist Programm. Jede Folge erzählt Überraschendes, Spannendes, Hintergründiges. Dazu wirft sie den Spot auf Details eines Fahrzeugs, Ausstellungsexponats oder eines Elements von Architektur und Gestaltung. Diesmal im Blick: der Mercedes-Benz 180 „Ponton“ (W 120) aus dem Jahr 1955.
Nr. 10/2023: Mercedes-Benz 180 (W 120) von 1955
Auftritt: Fast bescheiden wirkt der schwarze Mercedes-Benz 180 inmitten der anderen Fahrzeuge im Raum Mythos 4 des Mercedes-Benz Museums. Direkt hinter ihm ein „Kurzhauber“-Lastwagen. Rechts ein „Adenauer“, davor 300 SL, 300 SL Roadster (beide W 198) und 300 SLR (W 196 S), allesamt Autos mit höchster Strahlkraft. Doch absolut selbstbewusst steht der Mercedes-Benz 180 im Scheinwerferlicht: Das Fahrzeug der oberen Mittelklasse strahlt Werte der Marke aus und behauptet sich damit mühelos in diesem Umfeld. Das ist bei seiner Premiere vor 70 Jahren nicht anders: Wer mit einem Mercedes-Benz 180 in den 1950er-Jahren unterwegs ist, setzt ein Statement hinsichtlich repräsentativer Eleganz, Komfort, Qualität und Langlebigkeit.
Aufbruch: Der Typ 180 (W 120) mit seiner Karosserie in moderner „Ponton“-Form und dem hohen Aufwand in vielen Technikdetails ist ein Ausrufezeichen der sogenannten Wirtschaftswunderzeit. Dazu passt die Überschrift „Wunderjahre – Form und Vielfalt“ des Raums Mythos 4. Der Raum umfasst die Zeit von 1945 bis 1960.
Erfolgreich: Die „Ponton“-Baureihen W 120/121 mit Vierzylindermotor werden von 1953 bis 1962 gebaut. Mit ihnen stößt das Unternehmen auch über einen verstärkten Export in eine neue Stückzahlregion vor: Rund 443.000 Kunden aus aller Welt entscheiden sich für eines der Fahrzeuge. Die erfolgreichste Variante ist der 180 D mit Dieselmotor, von dem fast 150.000 Fahrzeuge produziert werden. Der Typ 180 mit Ottomotor wird von 1953 bis 1962 gefertigt, von ihm entstehen 117.192 Exemplare. Zum Vergleich: Vom ebenfalls in der oberen Mittelklasse angesiedelten 170 V (W 136) laufen vor dem Zweiten Weltkrieg in allen Varianten 91.048 Fahrzeuge vom Band.
Heute vielleicht kurios: Zu den Komfortmerkmalen der „Ponton“-Vierzylinderlimousinen gehören eine für Fahrer und Beifahrer getrennt regulierbare Heizung und Lüftung. Der im Museum gezeigte Mercedes-Benz 180 wird im Jahr 1955 gebaut. Zu seinen Sonderausstattungen gehört der Außenspiegel links, der mit 15 DM in der Preisliste verzeichnet ist („Rückblickspiegel außen an der Kastensäule“). In Deutschland wird ein zusätzlicher Spiegel erst Mitte 1956 Pflicht. Die ebenfalls montierten Nebelscheinwerfer stehen mit 120 DM in der Preisliste.
Der erste Erlkönig: Die Premiere des Mercedes-Benz 180 prägt übrigens bis heute im deutschen Sprachraum die Berichterstattung über neue Automobiltypen. 1952 erscheint in der Zeitschrift „auto motor und sport“ ein erstes Bild eines Prototyps der neuen Limousine zusammen mit einer Parodie auf Goethes Ballade „Erlkönig“. Daraus entsteht die im Deutschen gebräuchliche Bezeichnung „Erlkönig“ für einen getarnten Prototyp.
Erscheinungsbild: Für den „Ponton“ bedienen sich die Stilisten damals moderner Gestaltungskriterien. Das Design folgt dem „Three Box“-Prinzip mit Vorbau, Fahrgastzelle und Heck. Der Wegfall von Trittbrettern und frei stehenden Scheinwerfern sowie integrierte Kotflügel senken Luftwiderstand und Verbrauch. Weiterer Effekt: Der Innenraum ist deutlich geräumiger als bei älteren Karosserieformen. Dazu rundliche Formen, wie sie für die 1950er-Jahre typisch sind, inklusive runder Frontscheinwerfer. Es ist das damalige Familiengesicht von Mercedes-Benz. Alle Fahrzeuge in Mythos 4 tragen es – inklusive Lastwagen.
Stabiler und leichter: Die Zäsur findet auch innerhalb des Fahrzeugs statt. Die Karosserie ist mit der Rahmenbodenanlage fest verschweißt und bildet eine statische Einheit. Mit diesem Fahrzeug verabschiedet sich Mercedes-Benz von der althergebrachten Konstruktion aus Chassis und unabhängiger Karosserie. Gegenüber der früher üblichen Konstruktionsweise steigt die Verwindungssteifigkeit und das Gewicht sinkt.
Aufwand: Hinzu kommt ein Fahrwerk mit wichtigen Sicherheits- und Komfortmerkmalen. Die an Doppelquerlenkern geführten Vorderräder sind nicht mehr direkt am Rahmen, sondern an einem sogenannten „Fahrschemel“ aufgehängt. Dabei handelt es sich um einen U-förmigen, aus zwei gepressten Blechteilen zusammengeschweißten Achsträger, an dem auch Motor, Getriebe und Lenkung befestigt sind. Er ist über drei Silentblöcke geräuscharm am Rahmen gelagert.
Antriebsstark: Unter der Motorhaube des 180 arbeitet ein Vierzylinderaggregat. Aus einem Hubraum von 1.767 Kubikzentimetern entwickelt es 38 kW (52 PS) bei 4.000/min. Auf den damaligen Straßen ist man damit absolut adäquat unterwegs. Die Höchstgeschwindigkeit beträgt 126 km/h. Die Motorenpalette erweitert Mercedes-Benz schon 1954 mit der Dieselvariante 180 D. Als dritter Typ kommt 1956 der deutlich leistungsstärkere Mercedes-Benz 190 (W 121) mit 55 kW (75 PS) ins Programm.
Evolution: Mercedes-Benz aktualisiert die Baureihen 120 und 121 mehrfach. Wichtige Schritte sind die 1955 eingeführte Eingelenk-Pendelachse am Heck mit tief liegendem Drehpunkt, zum August 1957 die Modellpflege, im Jahr 1958 das Debüt des 190 D sowie 1959 die Designauffrischung. Ebenfalls ab 1959 sorgen neueste Erkenntnisse für einen entschärften Innenraum und damit ein verbessertes Sicherheitsniveau. Das Armaturenbrett ist gepolstert, Bedienungselemente sind elastisch und zum Teil versenkt angeordnet. Das Lenkrad trägt eine Polsterplatte. Im gleichen Jahr wird das Keilzapfen-Türschloss mit zwei Sicherheitsrasten eingeführt. Es wirkt dem Aufspringen der Türen entgegen. Denn oft werden Personen bei einem Unfall aus dem Auto geschleudert und ziehen sich schwere Verletzungen zu – Sicherheitsgurte sind noch nicht verbreitet.