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Neue Mobilität:
Evolution oder Revolution?
Weiter zunehmende Urbanisierung, verstopfte Straßen, Luftverschmutzung und immer schärfere Klimagesetze: In Sachen Mobilität der Zukunft heißt es umdenken.
In Sachen Mobilität gilt es umzudenken. Grafik: Michael Stach
Anarchie und Wilder Westen: Auf den ersten Blick würde man diese beiden Schlagworte nicht unbedingt mit dem Thema Mobilität in Verbindung bringen. Tobias Schönberg, Senior Partner und Co-Leiter des Center for Smart Mobility der international tätigen Unternehmensberatung Roland Berger, verwendet dieses Begriffspaar dagegen ganz bewusst, um aufzuzeigen, welche Gefahren in Sachen urbane Mobilität und urbane Logistik drohen, wenn die jeweiligen Player mit Blick auf ganzheitliche Konzepte und Regulierung nicht schnell einen Zahn zulegen. Die Dringlichkeit unterstreicht auch eine Prognose der Vereinten Nationen, nach der im Jahr 2030 rund 60 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben werden – über 5 der dann voraussichtlich 8,5 Milliarden Menschen. Die Zahl der Megacitys mit über 10 Millionen Einwohnern soll bis dahin von heute 33 auf 43 ansteigen; die meisten davon liegen in Asien und Afrika.
Was die städtische Mobilität anbelangt, ist „Anarchie“ für den Verkehrsexperten dabei das schlimmste Szenario. „Es beschreibt einen Zustand, in dem es keine gezielte Verkehrssteuerung, keine kollaborative Steuerung vernetzter autonomer Fahrzeuge und keine planerischen und regulatorischen Steuerungsimpulse gibt“, sagt Schönberg und verweist auf die von ihm mit erstellte Studie „Urbane Mobilität 2030“. Mehr denn je seien Entscheider aus Politik und Wirtschaft gefragt, intelligente Inselsysteme zu einem hoch vernetzten Gesamtsystem zusammenzuführen und zu verhindern, dass der Individualverkehr unkontrolliert weiter zunehme. Zentrale Bausteine hierfür sieht der Unternehmensberater etwa in der Elektrifizierung des Straßenverkehrs mit entsprechender Ladeinfrastruktur, der zunehmenden Verbreitung von Ride-Sharing, also organisiertem gemeinsamen Fahren, sowie der Einführung hoch beziehungsweise voll automatisierter Fahrzeuge.
Neue verkehrsplanerische Lösungen erforderlich
„Die zunehmende Flächenknappheit in Städten, etwa durch Urbanisierung bei einem gleichzeitig wachsenden Bedürfnis nach Mobilität, erfordert vor allem auch neue verkehrsplanerische Lösungen, unter anderem mit einem erhöhten Maß an Lärm- und Abgasschutz“, betont Schönberg. Erfolgreiche Ansätze gibt es dafür schon. So zum Beispiel die „Superilles“ in Barcelona. Dort werden seit 2017 in der Regel jeweils neun Häuserblöcke zu einem „Superblock“ vereint. Innerhalb dieser Areale sind Autos weitgehend tabu. Nur Anwohner und Gewerbetreibende dürfen mit einer Geschwindigkeit von maximal 10 km/h hineinfahren, um zu den Tiefgaragen zu gelangen oder Waren auszuliefern. Aktuell gibt es sechs Superilles, elf weitere sind in Planung. Nach dem 2016 von der Stadtverwaltung entwickelten Konzept sollen es sogar 503 werden. Salvador Rueda, Direktor der Behörde für urbane Ökologie in Barcelona, hält an dem Plan fest. 70 Prozent der Straßen der katalanischen Metropole würden dann einer gemischten Nutzung unterliegen.
Auch viele andere Metropolen machen sich schon seit vielen Jahren Gedanken darüber, wie sich die angespannte Verkehrslage verbessern lässt. Hongkong zum Beispiel hat in diesem Punkt schon 1993 mit dem Bau des Central Mid-Levels Escalator ein Zeichen besonderer Art gesetzt: Das überdachte und mit 800 Metern bis heute nach wie vor längste Rolltreppensystem der Welt im Freien verbindet die Stadtteile Central und Mid-Levels im Geschäftszentrum auf Hong Kong Island miteinander. Es überwindet in 20 hintereinander gestaffelten Rolltreppen 135 Höhenmeter. Ein ebenfalls ungewöhnliches Konzept gegen den Verkehrskollaps haben die beiden zusammengewachsenen bolivianischen Großstädte La Paz und El Alto mit dem ab 2014 aufgebauten und seitdem regelmäßig erweiterten größten Seilbahnnetz der Welt. Es umfasst rund 33 Kilometer, besteht aus kuppelbaren Gondelbahnen und ist inzwischen das Hauptverkehrsmittel in den beiden Städten. Und in Las Vegas hat The Boring Company von Elon Musk erst im Mai 2020 den zweiten Tunnel für den People Mover fertiggestellt. Autos fahren dabei nicht mehr auf einer Straße, vielmehr werden sie von Schlitten mit hoher Geschwindigkeit durch ein Tunnelnetz unter der Stadt transportiert. Das soll dazu beitragen, die Fahrzeiten zu verkürzen und Staus zu vermeiden.
Schaffung ganzheitlicher Mobilitätsökosysteme
Wie fit die Städte weltweit für die sich verändernden Mobilitätsanforderungen sind, zeigt der „Urban Mobility Readiness Index: How Cities Rank on Mobility Ecosystem Development“. Die im November 2019 in Paris präsentierte Mobilitätsstudie wurde verfasst von Professor Alexandre Bayen, Leiter des Institute of Transportation an der Berkeley-Universität in San Francisco, in Zusammenarbeit mit Verkehrsexperten der internationalen Strategieberatung Oliver Wyman. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwieweit die 30 untersuchten Städte aus allen Erdteilen auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet beziehungsweise modernen Technologien und Verkehrsmitteln gegenüber aufgeschlossen sind. Näher betrachtet wurden fünf Kategorien: die Systemeffizienz des öffentlichen Personennahverkehrs, die sozialen Auswirkungen des Verkehrs unter anderem im Hinblick auf Verkehrssicherheit, Luftqualität und Verkehrsfluss, die Innovationsfreude der Stadtverwaltung, die Attraktivität für Marktteilnehmer aus dem Bereich der Mobilität sowie die Infrastruktur.
„Ob Drohnen, autonome Fahrzeuge, Hyperloops, die Elektrifizierung des Verkehrs, gemeinsame Netzwerke von Autos, Rollern und Fahrrädern oder die Einführung der 5G-Funktechnik: Die Welt der Mobilität verändert sich fast täglich“, bekräftigt Verkehrsforscher Bayen. Nirgendwo werde sich dieser Wandel in den kommenden Jahrzehnten stärker bemerkbar machen als in den Großstädten der Welt. Die zunehmende Bevölkerungsdichte und Überlastung würden die Schaffung und Aufrechterhaltung städtischer Verkehrssysteme immer komplexer machen. Das wiederum erfordere ein aktives Transport- und Nachfragemanagement. „Mehr denn je müssen die Stadtverantwortlichen deshalb in der Schaffung von ganzheitlichen Mobilitätsökosystemen denken, anstatt hier eine U-Bahn und dort Fahrradwege zu bauen“, ergänzt Joris D’Incà, Partner bei Oliver Wyman in Zürich und spezialisiert auf die Transport- und Logistikbranche. Da die neuesten Technologien die Grenzen zwischen Infrastruktur, Fahrzeugen, Sensoren und Mobilitätsanwendungen verwischen, entwickeln sich diese Ökosysteme um das Zusammenspiel verschiedener Netzwerke und Verkehrsträger herum. „Im besten Fall funktionieren sie nahtlos, ständig in Echtzeit miteinander verbunden“, so D’Incà.
Weltweit unterschiedliche Entwicklungsstadien
In dieser Hinsicht sind viele Metropolen der Welt, das unterstreicht der „Urban Mobility Readiness Index“, auf einem guten Weg. Angeführt wird das Ranking von Singapur, gefolgt von Amsterdam, London, Schanghai und New York. Dass sich unter den Top Ten insgesamt fünf asiatische Städte befinden – neben Singapur und Schanghai außerdem Tokio, Peking und Seoul –, verwundert Bayen nicht. „Ausschlaggebend hierfür ist unter anderem die Entschlossenheit der Städte, entweder zu den Ersten zu gehören, die die neuesten Technologien und Lösungen vorstellen, oder zumindest führend zu sein, wenn es darum geht, ihre Einführung voranzutreiben.“
Von autonom fahrenden Autos und Ride-Hailing, also einer per App gebuchten Mitfahrt in einem Privat-Pkw, bis zu Elektrofahrzeugen und Hochgeschwindigkeitszügen stünden asiatische Städte an vorderster Front. Insbesondere Singapur zeige einen starken politischen Willen, die Mobilität über den Status quo hinaus weiterzuentwickeln. Eine Patentlösung gebe es dessen ungeachtet nicht, da die Entwicklungsstadien in Sachen Mobilität weltweit ganz unterschiedlich seien. In Los Angeles zum Beispiel werden laut Bayen 89 Prozent der Reisen mit dem Auto unternommen, während es in Hongkong nur 7 Prozent seien. In Amsterdam bewegen sich 60 Prozent der Menschen mit dem Fahrrad oder zu Fuß, in Mexiko-Stadt nutzen 70 Prozent den öffentlichen Nahverkehr.
Neue Mobilität – Neues Verständnis von Verkehr
Nicht weniger groß sind die Herausforderungen im Bereich urbaner Logistik. Und hier kommt nun das anfangs erwähnte Schlagwort „Wilder Westen“ ins Spiel. „Dieses Szenario droht, wenn immer mehr Logistikanbieter mit innovativen Zustellkonzepten um die Gunst der Kunden konkurrieren“, gibt Tobias Schönberg von Roland Berger in der ebenfalls von ihm mit verfassten Studie „Urbane Logistik 2030“ zu bedenken. Durch den stark zunehmenden E-Commerce und den Trend zur immer schnelleren und flexibleren Lieferung immer kleinteiligerer Mengen steige die Zahl der Lieferfahrzeuge. Sie wiederum seien infolge fehlender Kooperation längst nicht ausgelastet. Dadurch werde der innerstädtische Logistikverkehr weiter massiv zunehmen. Um gegenzusteuern, biete sich zum Beispiel das integrierte Management von Logistikverkehren an. „Während die öffentliche Hand Logistikflächen für die Einrichtung gemeinsamer Mikrodepots definieren müsste, sollten Unternehmen die technischen und physischen Voraussetzungen für das Agieren auf einer gemeinsamen Plattform schaffen“, erklärt Schönberg. Dazu gehöre auch die Einbringung eigener Flächen und Fahrzeuge, die über die Plattform gegebenenfalls unternehmensübergreifend genutzt werden könnten.
Voraussetzung für jedwede weitere Entwicklung ist seiner Ansicht nach die noch stärkere Förderung neuer Technologien, etwa von Elektromobilität im städtischen Raum. Dadurch ließe sich geräuscharme Nachtlogistik realisieren. Gleichzeitig könnten hoch wie auch voll automatisierte Fahrzeuge bald eine entscheidende Rolle spielen. „Weil diese mit einer deutlich höheren Auslastung als heutige Privatwagen in der Stadt unterwegs sind, wird unter anderem Parkraum frei, der zum Beispiel als dezentrale Logistikfläche dienen kann“, so Schönberg. Selbst bei einer teilweisen Einführung autonom fahrender Fahrzeuge in einzelnen Stadtquartieren könnten solche Systeme zu einem völlig neuen Verständnis von Verkehr führen. So könnten beispielsweise öffentliche Robocabs – also autonom fahrende Taxis – für den Personen- und Warentransport genutzt werden.
Auf die Akzeptanz kommt es an
„Ob ein neues Mobilitätsangebot Erfolg hat oder nicht, hängt davon ab, ob die Nutzerinnen und Nutzer es attraktiv finden und ob der Preis stimmt“, sagt Konrad Götz, Mobilitätsforscher am Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) in Frankfurt am Main. Gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart hat das ISOE im vergangenen Jahr eine Studie zum Thema Robocab präsentiert. Erklärtes Ziel war es, die Bandbreite denkbarer autonomer Fahrzeugkonzepte aufzuzeigen und hinsichtlich der Akzeptanz zu bewerten. Befragt wurden zu diesem Zweck rund 2.400 Personen in Deutschland, China und den USA. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Akzeptanz in China am höchsten ist, gefolgt von den USA und Deutschland. „In Deutschland werden Robocabs eher noch als Ergänzung zu den aktuell genutzten Transportmitteln gesehen, in China hingegen sogar als Ersatz“, bilanziert Maximilian Jakob Werner vom Fraunhofer IAO.
Da das Robocab und das automatisierte Fahren nach Ansicht der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom ISOE und Fraunhofer IAO nicht nur Trends der Automobilindustrie, sondern gesellschaftlich relevante Themen darstellen, stehe auch der Staat in der Verantwortung. Staatliche Institutionen müssten deshalb weiterhin finanzielle Mittel bereitstellen, um die Forschung voranzutreiben. Insbesondere die Frage, unter welchen Bedingungen Robocabs einen Beitrag zu nachhaltigen Verkehrssystemen leisten, sollte genauer erforscht werden. Neben anfänglichen Simulationen und Modellierungen seien vor allem experimentelle Projekte in ausgewiesenen Räumen nötig, um die realen Effekte auf der Straße und in der Stadt zu erforschen. Es bleibt also spannend.
„Nachhaltiges Mobilitätsmanagement ist ein fortlaufender
Entwicklungsprozess“
DEKRA berät Unternehmen schon seit Jahren im Hinblick auf ihre Nachhaltigkeit. Welchen Stellenwert hat in diesem Kontext das Thema Mobilität?
Angesichts der Tatsache, dass der Fuhrpark bei den CO2-Emissionen zum Beispiel eines Dienstleistungsunternehmens häufig den mit Abstand größten Posten ausmacht, kommt der Mobilitätsberatung große Bedeutung zu. Unsere Erfahrungen zeigen, dass der Einsatz von Personen- und Straßengüterverkehrsmitteln, die mit fossilen Kraftstoffen betrieben werden, oft noch nicht den heutigen Anforderungen an die Unternehmensnachhaltigkeit entspricht. Es besteht also in vielen Fällen Handlungsbedarf. Mit unserem Service unterstützen wir Unternehmen dabei, die verkehrsbedingten Belastungen effektiv zu verringern. Gleichzeitig begleiten wir sie bei der Schaffung geeigneter Maßnahmen zur Verbesserung ihres betrieblichen Mobilitätsmanagements, um so auch das Mobilitätsverhalten im gesamten Unternehmen zu verändern und nachhaltig unterwegs zu sein.
Wie gehen Sie dabei vor?
Zunächst analysieren wir den Status quo des bestehenden Mobilitätsmanagements und überprüfen die Effizienz der bereits getroffenen Maßnahmen. Die Analyseergebnisse dienen als Basis für ein gemeinsam mit dem Unternehmen ausgearbeitetes Optimierungskonzept mitsamt Kosten-, Finanzierungs- und Zeitplänen. Etwa, indem die Car-Policy neu definiert oder die nötige Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge geschaffen wird. Oder indem man ÖPNV-Tickets fördert, damit ein Teil der Mitarbeiter für den Weg zur Arbeit und zurück nach Hause auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigt. Unser Ziel ist es, für und mit den Unternehmen ein ganzheitliches Mobilitätspaket mit dem besten Mix aus den unterschiedlichsten Verkehrsmitteln zu schnüren.
Überprüfen Sie auch die Wirksamkeit der Maßnahmen?
Selbstverständlich gehört auch die Erfolgskontrolle zu unserem Dienstleistungsspektrum. Ein nachhaltiges Mobilitätsmanagement ist schließlich keine Eintagsfliege, sondern ein fortlaufender Weiterentwicklungsprozess.